Das alte grüne Telefon war ihr bereits während der Wohnungsbesichtigung aufgefallen. Es stand in einer kleinen Nische im Flur und sah so aus, als sei es immer schon dort gewesen. Lena wusste nicht, wann sie zuletzt ein Telefon mit Wählscheibe gesehen hatte, und sie brauchte eine Weile, bis ihr wieder einfiel, wie es funktioniert. Nicht, dass sie geglaubt hätte, dass es angeschlossen sei, aber intuitiv wählte sie die alte Rufnummer ihres Elternhauses, die sie als Kind so oft benutzt hatte.
Sie erschrak, als ein Freizeichen ertönte. Es klang so vertraut, dieser scheppernde, rasselnde Ton, der ihr sagte, dass gerade jemand das läutende Telefon hörte und sich auf den Weg machte in den Flur, um abzunehmen. Ihr war fast, als könne sie die Schritte hören, die immer näher kamen, sie hallten in dem leeren, gekachelten Gemäuer wider.
»Hallo? Wer ist da?« Sie erschrak, als sie eine Stimme am anderen Ende der Leitung hörte, die weit entfernt sein musste und doch so nah klang.
»Hier ist Lena. Und dort?« Ihre Stimme hatte gezittert, auch wenn sie nicht wusste, warum sie eigentlich so aufgeregt war.
»Lena wer? Hier ist ebenfalls Lena.«
Lena schluckte. »Hier ist Lena Goldmann. Ich bin gestern in die Freiherr-vom-Stein-Straße 6 gezogen.« Am anderen Ende der Leitung war es still.
»Hallo?«
Ein Räuspern war zu hören, dann eine genervt klingende Antwort.
»Das ist unmöglich. Das hier ist die Freiherr-vom-Stein-Straße 6 und ich bin Lena Goldmann. Wenn das ein Telefonstreich sein soll, ist er nicht sehr
originell.«
»Aber nein, ich mache keine Scherze. Ich habe mir letzte Woche die Wohnung angeschaut. Ich hatte früher schon einmal hier gewohnt, aber das ist eine Ewigkeit
her.«
»Also, meine Liebe, ich wohne seit meiner Geburt hier und das war am 17.11.1968.«
Lena atmete scharf ein. »Aber das ist ja mein Geburtsdatum. Welches Datum haben wir heute?«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang immer genervter. »Heute ist der 13.05.1985. Ein Montag, falls es Sie interessiert.«
Lena schlug das Herz bis zum Hals. Das war unmöglich. Heute war der 13.05.2018, ein Samstag. Sie erinnerte sich an das Telefonat. Natürlich erinnerte sie sich
daran. Sie hatte gedacht, jemand wolle ihr einen Streich spielen, Freundinnen aus der Schule vielleicht, oder wer auch immer. Sonst hätte sie möglicherweise auf die Frau gehört. Und ihr wäre
einiges erspart geblieben.
»Hallo, sind Sie noch da? Was wollen Sie denn eigentlich von mir?«
Krampfhaft überlegte sie, wie sie es wohl diesmal besser machen könnte. Sie musste überzeugender sein, damit Lena ihr glaubte. Damit sie selbst sich
glaubte.
»Hören Sie, wenn Sie nichts mehr zu sagen haben, werde ich jetzt auflegen!«
»Nein, warte! Lena, du musst mir zuhören, bitte. Und du musst mir glauben, es ist wichtig. Ich bin du, aus der Zukunft. Ich weiß nicht, wie es funktioniert, aber
ich habe nur diese eine Chance, dich zu warnen. Du darfst dich nicht auf Boris einlassen. Ich weiß, er macht dir den Hof und er ist charmant, aber du darfst ihm nicht vertrauen. Es wäre dein
Unglück. Er wird dich fragen, ob du mit ihm nach Italien in den Urlaub fahren möchtest. Tu es nicht, hörst du? Es ist wichtig, es ist die wichtigste Entscheidung deines Lebens.«
Lena dachte daran zurück, wie verliebt sie damals gewesen war und wie leichtsinnig. Es war ihr erster Urlaub als Paar gewesen, und sie kam sich so klug und
erwachsen vor. Dann war sie schwanger geworden in diesem Urlaub, und natürlich hatten sie gleich darauf geheiratet. Die ersten Jahre waren auch gar nicht so schlimm gewesen. Obwohl sie ziemlich
schnell begriffen hatte, dass sie Boris besser nicht widersprechen sollte.
Sie war mit ihren Gedanken so in die Vergangenheit versunken gewesen, dass sie erst jetzt bemerkte, dass die Telefonverbindung mittlerweile getrennt war. Sie hörte
ein entferntes Tuten, als sie den Telefonhörer sinken ließ.
Ob Lena ihr geglaubt hatte? Ob sie auf sie hören würde? Langsam legte sie den Hörer auf die Gabel. Es war unheimlich still in den kalten, leeren Räumen. Sie zitterte, ob vor Angst, Anspannung oder Kälte konnte sie nicht sagen. Wie ferngesteuert ging sie ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Sie sollte auch nach dem blauen Fleck auf ihrer Wange schauen, dem letzten Andenken an Boris, das er ihr verpasst hatte, als sie ihm gestern gesagt hatte, dass sie ausziehen werde. Seltsam, es tat nicht mehr weh, wenn sie mit den Fingern darüber fuhr. War sie im Laufe der Jahre so unempfindlich geworden? Nein, als sie jetzt in den Spiegel sah, konnte sie nichts mehr entdecken, ihr Gesicht war unversehrt. Ihr kamen die Tränen, als sie begriff, warum. Sie hatte ihr geglaubt. Diesmal hatte sie sich tatsächlich geglaubt!
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